Running Man 2

Kurze Geschichte 2

Der frühe Morgen des Running Man

Der Wasserkocher sprudelt, befüllt hatte er ihn schon am Abend, Planung ist bei Jörg  mehr als das halbe Leben. Und auch die Banane liegt schon schälfertig auf dem Küchentisch vor ihm. Ansonsten liegt nichts auf dem Tisch. Jörg liebt Ordnung und Ordnung heißt für ihn Leere. Leer ist schön, voll ist grässlich. Es ist jetzt halb fünf, sein Körper ist fast völlig schmerzfrei, seine Blase entspannt, wäre da nur nicht eine große Mattigkeit. Die muss er wegbekommen, mit Curcumatee vielleicht. Da ist Ginger und Lemongrass drinnen. Er gönnt sich eine große Tasse mit zwei Teebeuteln, ohne Zucker und zieht der Banane die Schale runter. Routine im Countdown.

all you can eat

Er sitzt am Küchentisch, die Beine ausgestreckt, die Knie entlastet.  Die WamS würde jetzt ein Zeitfresser sein, aber sie ist nicht da, also geht Jörg seinen Zeitplan für die nächsten Stunden schon mal durch: Um viertel vor sieben die Tüte packen, um sieben ins Auto steigen, zehn Minuten später Parkplatz finden – es ist Sonntag, da muss das klappen – drei Minuten vor halb acht die U-Bahn nehmen. Vorher in jedem Fall noch mal pinkeln, und zwar nicht in Hektik! Zwanzig Minuten später Ankunft am Ziel und da schweifen Jörgs Gedanken zurück zur Banane. Die hat er zwar gerade gegessen, aber Frage: soll er noch eine hinterher drücken? Zur Sicherheit wegen drohendem Hungerast in der Folgezeit.

Der weitere Morgen

Er entscheidet sich dagegen. Er trinkt seinen Tee in kleinen Schlucken und merkt sein linkes Knie erneut. Schnell wieder komplett durchdrücken, denkt er sich und lässt fast augenblicklich die Tat folgen. Das tut dem Knie gut und damit auch Jörg. Die Knochenhaut hält Ruhe und die Hüfte auch, einziges Problem:

erst fünf Uhr!

Damit muss er jetzt noch zwei Stunden tot schlagen. Er könnte in die Kirche zur Frühmesse gehen, aber echte Frühmesse war früher, heute ist Frühmesse um neun oder um zehn. Die Popen schlafen heute auch bis in die Puppen. Einen kleinen Spaziergang unternehmen, auch keine gute Idee.

Die Muskulatur darf nicht zu früh auf Betriebstemperatur gebracht werden. Jörg müsste ja eigentlich noch im Bett liegen. Und was wäre mit Glotze gucken und einfach auf dem Sofa liegen, da widersprechen weder Körper noch Geist. Er zappt sich in Minutenschnelle durchs komplette Free-TV Programm. Bleibt mal bei Löwen in Afrika, dann bei Truckerrennen in Arizona und bei einer Hausgeburt in Tirol hängen.

Dorfbild Tirol
Typicher Ort für eine Hausgeburt in Tirol

Bei der nickert er weg und schlägt im Halbschlaf eine Stunde tot.

Es ist sechs,

und bevor er wieder anfängt über seinen Körper nachzudenken, steht er auf, setzt sich an seinen PC, fährt ihn hoch, geht auf google maps und schaut sich zum fünfzigsten Mal seine Strecke für heute an. Und checkt den aktuellen Wetterbericht. Das Regenradar macht Hoffnung und sagt ab ca. acht Uhr lange, trockene Phasen vorher. Er fährt den PC wieder runter und trifft die zweite große Entscheidung dieses immer noch frühen Sonntags. Er startet einfach früher mit den letzten Vorbereitungen zu Hause: Die Tüte muss nicht um viertel vor sieben gepackt werden, er kann damit auch schon um halb sieben starten und dafür den Inhalt anschließend noch zweimal, statt – wie sonst – nur einmal durchchecken.

Die Tüte

Jörg  geht grundsätzlich mit System vor.

Schon eine Woche vor dem Countdown lief alles nach einem festen Ritual. Täglich weniger Bewegung mit immer geringerer Belastung, lange schlafen und viele Spaghettis. Seit dreißig Jahren bewährtes Procedere, nur selten abgeändert, einmal in New York erinnert er sich. Da ging es ihm wie heute. Schlaflos in der „Stadt, die niemals schläft.“ Oder war das Seattle? Aber damals hatte ihn das nicht gestört. Er stand unter Strom.

Er war tagelang durch die Stadt gelaufen, oft ohne Sinn und Verstand, irgendwann auch so hektisch wie die New Yorker, aber immer ziemlich verpeilt. Ziele kamen und gingen im Vorübereilen. Selten hatte er in den kleinen Reiseführer geschaut, der in seiner Tasche steckte. Lediglich aus Sorge darüber, dass er nicht mehr zu seinem Hotel in Soho zurückfinden und seinen Countdown gefährden würde. Wenn er müde wurde, war er mit der U-Bahn ein paar Stationen gefahren, hatte die Beine entlastet und war dann weiter gelaufen. Als der große Sonntag kam und er morgens um sechs, zusammen mit fünfunddreißig tausend gleich, oder zumindest ähnlich Gesinnten über die Verrezano Brücke nach Staten Island aufbrach, war sein Körper völlig schmerzfrei und einfach nur heiß auf das Finale.

An New York will Jörg jetzt nicht weiter denken, er muss sich auf sein heutiges Ziel konzentrieren, darf keinen Fehler machen, den er später bitter bereuen müsste und nie mehr gut machen könnte.

Immer noch Morgen, der Countdown läuft

6.20 Uhr

Also erstmal wieder Bademantel und Skisocken aus. Dann Vaselinetube im Medikamentenschränkchen suchen und fett auftragen: an beiden Achseln, vorne und hinten, Brustwarzen noch fetter, Oberschenkel innen auch fett. Dann die Beine, Arme und das Gesicht eincremen. Schutz gegen wund Scheuern, Schutz gegen Kälte und Salzkruste im Gesicht, wenn der Schweiß eintrocknet.

Jörg steht auf Vaseline, auch seit 30 Jahren. Seine Brustwarzen haben noch nie geblutet wie bei Jesus am Kreuz. Oder wie bei Hunderten von Italienern im letzten Jahr in Venedig. Er hatte seinen Job schon erledigt und sah sie ins Ziel laufen, blutüberströmt, mit schmerzverzerrten Gesichtern. Warum nur Italiener zu den Opfern zählten? Wahrscheinlich hatte die Mafia minderwertige Laufhemden verteilt.

Venedig Marathon
Noch kein Blut zu sehen in Venedig

Jetzt geht’s ans Anziehen, in drei Schichten. Immer alte Klamotten, nie neue und nie Funktionskleidung, ausgenommen Wettkampf-Hose und Hemd. Immer kurz, Sommer wie Winter. Er zieht zwei alte T-Shirts über sein Laufhemd, darüber einen Uraltfleece. Unten rum über die Laufhose eine schlabbrige Trainingshose. Alles hatte er sich fertig auf seinen zweiten Küchenstuhl gelegt. Die Wettkampfschuhe mit Socken stehen darunter. Viele hundert Kilometer auf dem Buckel, Socken wie Schuhe. Denn noch schlimmer als blutige Brustwarzen sind blutige Füße.

Der Countdown geht in seine Endphase

Ein interner Link, nicht nur für Marathon Fans:

Marathon am Everest: Der höchste Lauf der Welt

Und der Link zur ersten Folge von Running Man:

Running Man 1

Und wer unbedingt in „Jörgs Stapfen“ treten will, hier ein Link für den nächsten Venedig Marathon im Herbst:

https://www.venicemarathon.it/en

Nächste Woche: Running Man Folge 3

Ich - Mikka Ich war schon immer eher Läufer und nicht Rädchen-Fahrer. Wir wohnten am Hang, ein unbefestigter Feldweg führte zu unserem Haus. Wir haben unsere Räder immer mehr geschoben als gefahren. Später verdiente ich mein Geld als Bademeister und Fensterputzer, da war ich auch viel zu Fuß unterwegs, ja und dann habe ich mit dem Marathon laufen angefangen. Und mit dem Bergwandern, ich war auch Reiseleiter im Himalaya. Als das Heruntergehen meinen Knien nicht mehr gefiel, hab ich das Paragleiten gelernt. Soviel zu meiner Sportkarriere. Beruflich lief es auch nicht so glatt. Als Junge wollte ich die Wetterstation auf der Zugspitze übernehmen. Es hat dann nur zum Wetterfrosch ohne Ausbildung gereicht. Lehrer konnte ich auch nicht werden, da hatte ich zwar eine Ausbildung, aber das Land NRW keine Jobs. Also wurde ich eben Reiseleiter, Reisereferent, Reiseverkäufer, Reiseredakteur und Reisejournalist. Ich bin ein bisschen herumgekommen. Habe Reisefilme gedreht, Reiseartikel und zwei Reisebücher geschrieben. Ich habe vor und hinter der Kamera gestanden, den Mount Everest fast bestiegen und die Sahara quasi durchquert. Ich bin viele Berge hochgelaufen und heruntergeflogen und ich bin seit 65 Jahren Gladbach Fan. Ich wurde in Mönchengladbach geboren.

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