Die Raute im Herzen

Besuch bei der Borussia, der Macht vom Niederrhein

Am Samstag, den 23.08.1969 hatte ich vier Stunden Unterricht. Das weiß ich noch ganz genau. Es klingelte um zwanzig vor zwölf und ich rannte los. Durch eine Seitentür auf einen Parkplatz an der Elisabethstraße. Da wartete mein Vater, in seinem sandfarbenen VW Käfer Automatik. Ich sprang auf die Rückbank und Sekunden später platzierte sich mein älterer Bruder auf dem Beifahrersitz. Es rief: die Macht vom Niederrhein!

Mein Vater fuhr los.

Er kannte den Weg, redete aber nicht. Er besaß einen Führerschein, aber Fahrkenntnisse – eher Fehlanzeige. Wir wollten ihn auf keinen Fall ablenken. Mein Vater war der felsenfesten Überzeugung, dass Straßen ausschließlich für Autos und deren Fahrer gebaut wurden. Weitere Verkehrsteilnehmer wurden von ihm kategorisch ignoriert. Auf unserer Strecke herrschte wenig Verkehr.

Über Köln, Grevenbroich und die Kuhkäffer Hoppers, Way, Waat führte unsere Reise an den Fuß des Monte Klamott, den mit 133 Metern höchsten Trümmerberg Deutschlands. Da lebten unsere Tanten. Mein Vater hatte 13 Geschwister und diese drei Tanten gehörten zu den Ältesten und hatten daher in den Vorkriegsjahren auf die Jüngeren aufpassen müssen. Irgendwie haben sie dabei vergessen, mal nach Männern Ausschau zu halten, oder sie hatten keine Lust dazu. Wie dem auch sei, sie blieben solo und bildeten eine Jahrzehnte haltende Frauen WG, im 3. Stock eines kleinen Hochhauses mit Blick auf den Monte Klamott – in Rheydt.

Wir kamen pünktlich an, das war damals sogar für einen schlechten Fahrer kein Zauberwerk.

Am kleinen runden Esstisch war genau Platz für uns drei,

entsprechend hatten die Tanten schon vorgegessen. Es gab, wie immer bei unseren Besuchen, „Himmel un Ääd“, also Kartoffelpüree, Apfelmus (leider das Grobe) und gebratene Blutwurst (Flönz) mit Zwiebeln. Zum Nachtisch eine süße Quarkspeise. Die Tanten waren stolz auf ihren jüngeren Bruder, er war Beamter geworden und hatte es zu sechs Kindern samt Eigenheim gebracht. Und er hatte sich zeitlebens auch um ihr Wohlergehen gekümmert. Also, mein Vater wurde hofiert, entsprechend wohl fühlte er sich, noch!

Denn die Zeit drängte, wir mussten los, Richtung Mönchengladbach.

Dort wurde geparkt, Kilometer entfernt von unserem eigentlichen Ziel. Mein Vater konnte nicht einparken, schon gar nicht rückwärts. Entsprechend groß musste die für ihn frei verfügbare Parkfläche sein. Wenn wir bis hierhin schon wenig miteinander geredet hatten, herrschte jetzt fast gänzliche Funkstille. Die Nerven lagen blank.

Die Macht vom Niederrhein
Mein Outfit heutzutage (Das Originale ging im Laufe meines Lebens verloren)
Mein Bruder zog einen völlig peinlichen rotweißen FC Bayern Schal aus einer Plastiktüte und hängte ihn sich um.

Dazu packte er sich eine Bayern Kappe auf den Kopf und ein Piccolöchen in die Hosentasche. Immer aufs Neue war es für meinen Vater ein tiefer Stich ins Herz. Er trug die Raute im Herzen, er hatte sie mir eingepflanzt, ich später meinem Sohn und an der Einpflanzung bei meinem Enkel arbeite ich derzeit. Und mein Bruder – Katastrophe! Ein FC Bayern Fan, der es wagte, auf dem

heiligen Bökelberg

im Gästeblock seinen super Bayern zuzujubeln. Wir fuhren in diesem Jahr zu vielen Heimspielen der Borussia und mein Bruder schob den Vollfrust, weil die Macht vom Niederrhein alle Teams aus dem Stadion schoss. „Die Fohlen“ kannten keine Gnade. Nur mein Bruder wollte das partout nicht wahrhaben. So auch an diesem Samstag. Er stapfte mit seinem uncoolen Outfit davon, ich packte mein selbst gezimmertes Holzbänkchen und folgte meinem Vater. Am Stadion war die Hölle los. Die Tanten hatten uns viele Wochen zuvor schon die Eintrittskarten besorgt. Wir fanden noch zwei Stehplätze. Ich positionierte mich auf meinem kleinen Hocker, der von den umstehenden Fans stillschweigend akzeptiert wurde. Ich war nicht direkt minderwüchsig, aber doch bis dahin eher klein geraten.

Osttribüne auf dem Bökelberg
Osttribüne

Und dann irgendwann brach das Spektakel los.

Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Konsorten auf der einen Seite gegen Berti Vogts, Günter Netzer und Co. auf der anderen Seite. Auf der Trainerbank von uns: Hennes Weisweiler. Und so kam, was kommen musste. Die Bayern spielten ganz ordentlich, aber die Borussia hatte den schlaueren Spielplan und einen Herbert Laumen in der 72. Minute:

2:1 für Gladbach.

Wir – die Macht vom Niederhein – hatten den Bayern sauber die Lederhosen ausgezogen und sie nach Hause geschickt, zu ihren weißen Würsten und ihrem Bier in Blumenvasen.

Was hätte ich darum gegeben in der Minute das Gesicht meines Bruders zu sehen. Ich weiß heute nicht mehr genau, ob mein Vater im Stadion gejubelt hat. Gefühlsausbrüche jeglicher Art waren ihm mehr als fremd. Ich glaube er hat nur zustimmend genickt. Ich bin auf meinem Höckerchen regelmäßig ausgeflippt und regelmäßig auch zusammengebrochen. Weil beim Torjubel die halbe Tribüne vor Freude auf mein Höckerchen springen wollte. Das hat es dann nicht ausgehalten. Nach Spielende wartete mein Vater immer, bis sich der Bökelberg komplett geleert hatte. Er ging Gedränge, wenn möglich, konsequent aus dem Weg.

Corona hätte ihn nicht weiter gejuckt.

Natürlich hätten wir auf den Sieg eine schöne Stadionwurst essen können, aber mein Vater war halt Beamter, Finanzbeamter. Irgendwann wanderten wir zurück zum Auto und fanden meinen Bruder vor. Natürlich war es der Schiedsrichter, Heimschiedsrichter eben! Der FC-Bayern Fan schob schlechte Laune und packte sein Piccolöchen ganz tief in seine Taschen. Über Waat, Way und Hoppers pilotierte unser Vater seinen Käfer wieder nach Hause, unfallfrei!

Nachtrag 1:

In der Saison 69/70 wurde die Macht vom Niederrhein Deutscher Meister, mit 4 Punkten Vorsprung vor der Beckenbauer-Truppe.

Die Macht vom Niederrhein
Beim letzten Spiel gegen 1860 München

Am 22.05.2004 wurde dann auch der Bökelberg zu einem Monte Klamott, einem Trümmerberg. Letztes Spiel auch gegen die Bayern – aber die Netten: die 1860iger!

Endergebnis 3:1 für uns.

Nachtrag 2:

Ich finde es unsäglich, dass der aktuelle Trainer der Borussia (wie heißt er nochmal) das Derby gegen den FC hergeschenkt hat. Ich finde es völlig abgedreht, dass die Borussia ihr Champions League Heimspiel in Ungarn ausgetragen hat. Aber richtig gut finde ich, dass der Trainer meine Borussia verlässt. Ich wünsche ihm mit seiner neuen Borussia viel Erfolg, gegen den Wolfsberger AC zum Beispiel.

Die Raute im Herzen!

Ich - Mikka Ich war schon immer eher Läufer und nicht Rädchen-Fahrer. Wir wohnten am Hang, ein unbefestigter Feldweg führte zu unserem Haus. Wir haben unsere Räder immer mehr geschoben als gefahren. Später verdiente ich mein Geld als Bademeister und Fensterputzer, da war ich auch viel zu Fuß unterwegs, ja und dann habe ich mit dem Marathon laufen angefangen. Und mit dem Bergwandern, ich war auch Reiseleiter im Himalaya. Als das Heruntergehen meinen Knien nicht mehr gefiel, hab ich das Paragleiten gelernt. Soviel zu meiner Sportkarriere. Beruflich lief es auch nicht so glatt. Als Junge wollte ich die Wetterstation auf der Zugspitze übernehmen. Es hat dann nur zum Wetterfrosch ohne Ausbildung gereicht. Lehrer konnte ich auch nicht werden, da hatte ich zwar eine Ausbildung, aber das Land NRW keine Jobs. Also wurde ich eben Reiseleiter, Reisereferent, Reiseverkäufer, Reiseredakteur und Reisejournalist. Ich bin ein bisschen herumgekommen. Habe Reisefilme gedreht, Reiseartikel und zwei Reisebücher geschrieben. Ich habe vor und hinter der Kamera gestanden, den Mount Everest fast bestiegen und die Sahara quasi durchquert. Ich bin viele Berge hochgelaufen und heruntergeflogen und ich bin seit 65 Jahren Gladbach Fan. Ich wurde in Mönchengladbach geboren.

Comment (1)

  1. Ralf Jühe

    Schöne Geschichte, sehr schöne Geschichte, nur das mit dem 22.5.2004 hätte ich gerne besser in Erinnerung.

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